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Romeo Franz und Alexandra Senff: Großonkel Pauls Geigenbogen

„Holt die Wäsche rein, die Zigeuner kommen“… Den Menschen, die frühermit ihren Bauchläden und Karren über die Ortschaften zogen, Messer undScheren schliffen, Schuhe putzten oder Haushaltsgeräte verkauften,begegnete man vielerorts mit Misstrauen und Verachtung. Sie hatten keinenguten Ruf, schienen für die Mehrheitsgesellschaft der Inbegriff vonvagabundierenden Kriminellen zu sein. Dieses sehr spannend geschriebene Buch hat mich mit vielen Vorurteilenkonfrontiert, mit denen ich selbst aufgewachsen bin. Beim Lesen wurden mirWissenslücken bewusst, die manchmal unreflektiert durch stereotypeZuschreibungen gefüllt waren. Bis heute existieren in den Köpfen vielerMenschen der Mehrheitsgesellschaft diskriminierende, einengende und auchfalsche Vorstellungen von dieser großen Minderheit innerhalb Deutschlands,die dafür kämpft als diejenige anerkannt zu werden, die sie wirklich ist. DerAntiziganismus ist bis heute eine uralte Form des Rassismus, der so tief sitzt,dass er meist kaum als solcher erkannt wird. Da besteht dringender Aufklärungsbedarf, dem mit diesem Buch inberührender, authentischer und sehr informativer Weise Rechnung getragenwird. In der lebendig erzählten Familiengeschichte des Sinto Romeo Franz erfährtman sowohl über das ganz normale Alltagsleben der Großfamilie und überdie Individualität ihrer Mitglieder, als auch über die sehr lange bedrückendeGeschichte von Ausgrenzung und Diskriminierung, bis hin zu dersystematischen Verfolgung und Ermordung in der NS-Zeit. Der Hass und dasüberlieferte Feindbild waren bei der Masse der Deutschen bereits vorherstark verinnerlicht, so dass die Nazis diese nur nutzen mussten, um die Sintiund Roma aus der „deutschen Volksgemeinschaft“ auszuschließen und zuverfolgen. Die anthropologischen körperlichen Vermessungen dienten reinrassistisch motivierten Studien und dem Zweck der Verfolgung undVernichtung. Die „Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“organisierte Deportationen in Arbeits- und Konzentrationslager, in denen ihreOpfer gefoltert und ermordet wurden. Es gab Verfolgung und Flucht querdurch Europa, um der Internierung zu entgehen, kaum jemand wurdeverschont. Schätzungen nach wurden 500.000 europäische Sinti und Romavon den Nazis ermordet. Nach 1945 war die familiäre Gemeinschaft geprägt von Traumatisierung,Schmerz und Trauer um die geschundenen und ermordeten Angehörigen,die aber als Opfer des Terrorregimes bis zum Jahr 1982 nicht anerkanntwurden. So gab es für die meisten Sinti und Roma keine Entschädigung fürFreiheitsberaubung und Zwangsarbeit, Existenzverlust undGesundheitsschäden — eine demütigende Missachtung ihres vielfältigerlittenes Leids, das in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurde.Wie Alexandra Senfft die persönlichen Schilderungen von Romeo Franz ineine einfühlsame Sprache gebracht und mit den historisch akribischrecherchierten politisch-historischen Ereignissen verwoben hat, bringt unsdie Lebensgestaltung und die Diskriminierungs- und Verfolgungsgeschichteder Sinti und Roma sehr nahe. Fotographien und Karten von Fluchtroutendokumentieren anschaulich die Verankerung der Familie in ihrenLebensbezügen ebenso wie auch die Vertreibung aus ihrer vertrautenWohnsituation. Und gleichzeitig entsteht der Eindruck, dass die Familienmitglieder aufgrundihrer Kraft und Resilienz, ihren starken Kompetenzen und dem familiärenZusammenhalt es geschafft haben, sich Lebendigkeit, Würde und Stolz zubewahren. Es ist auch eine Geschichte der Zuversicht, Romeo Franz’ Lebeneine Erfolgsgeschichte. Es ist ein sehr lesenswertes, berührendes und erhellendes Buch, dasunbedingt geschrieben werden musste, um die Geschichte einer bis heutevon Vorurteilen diskriminierten Minderheit in Deutschland zu erzählen. Wirerfahren viel über die Entstehung von Vorurteilen im Lichte historischerEreignisse und werden somit für stereotype Klischees sensibilisiert.

Familiengeschichte Penguin

Lesetipp von Susanne Beischer - 11.04.2024


Kamiab Falaki: Auf Abwegen

Der mit den Bildern des Autors versehene Erzählband Auf Abwegen umfasst 20 Geschichten, einige Gedichte und ist in zwei Teile gegliedert. Im ersten Teil Risse begegnen wir Migranten, vor allem aus dem Iran. Die Protagonisten im zweiten Teil Unerwartet sind Deutsche und in jeder Geschichte dieses Abschnitts gibt es eine vollkommen verblüffende Wendung. Die erste Erzählung beginnt mit einer behüteten Kindheit auf dem Lande im Iran, entwickelt sich dann aber rasant in verschiedene Settings und abwechslungsreiche Figurenensemble über die Landesgrenze hinweg. In intensiven und eindringlichen Begegnungen entwickeln sich hier die Geschichten von entwurzelten Menschen, die dies und jenseits der geografischen Grenzen außerhalb der sogenannten Normalität geraten sind. Die Protagonisten in beiden Teilen durchleben innere Prozesse wie Verlust und Sehnsucht, Schuld und Scham, Scheitern und Angst. Zeitlose universale Themen wie Macht und Machtverhältnisse, Freier Wille, Diktatur der Erinnerung, Verrat und Rache werden behandelt. Es geht auch um Hoffnungen, Sehnsüchten, Sinnlichkeit und ekstatische Momente. Das Buch ist ein Kaleidoskop der menschlichen Existenz gespeist aus den Jahrzehntelangen Erfahrungen und präzisen Beobachtungen des Autors nicht nur in seinem Ursprungsland Iran, sondern hier in Deutschland, in einer europäischen Gesellschaft. Jede Geschichte in diesem Erzählband funktioniert in sich eigenständig und ist abgeschlossen, dennoch gibt es immer wieder besondere Verbindungen zwischen den Geschichten wie zum Beispiel thematische Verwandtschaften. Auch zwischen den Figuren gibt es Besonderheiten: manche begegnen sich über die Grenze einer Einzelerzählung hinweg in einem anderen Ambiente, hier in einer Nebenrolle, dort als Hauptfigur. Einige Texte im ersten Teil sind autobiografisch gefärbt, in einigen Geschichten im zweiten Teil fließt die brandaktuelle politische und gesellschaftliche Realität in Deutschland und Aspekte der sozialen Misere ein. Die Handlungen sind sprachlich ausgesprochen bildhaft und in lebendigen Szenerien mit spannenden Dialogen erzählt, zwei Geschichten sind hauptsächlich in Dialogform angelegt, Psychoduelle, in denen die Worte Mimik und Gesten ersetzen. Es wird nicht moralisiert und dramatisiert, denn das Geschehen selbst ist dramatisch, ein starker Tobak, der einen nachhaltigen Eindruck hinterlässt. Der Autor erzählt in einer unpathetischen unsentimentalen Prosa mit Sympathie für und mit Respekt gegenüber seinen Figuren.

Erzählungen Arachne Verlag, 20,00 €

Lesetipp von Irma Kruspe-Giegler - 13.06.2022


Christiane Hoffmann: Alles was wir nicht erinnern Zu Fuß auf dem Fluchtweg meines Vaters

Alles was wir nicht erinnern Zu Fuß auf dem Fluchtweg meines Vaters Christiane Hoffmann in CH Beck Verlag erschienen Ich finde es ist ein sehr persönliches Buch über Flucht und Heimat, über die Schrecken des Krieges und über das, was verdrängt wird, um zu überleben. Ich glaube es ist unter anderem eine Aufarbeitung einer eigenen Familiengeschichte Worum geht es in diesem Buch? Christiane Hoffmanns Vater floh Anfang 1945 im Alter von 9 Jahren mit seiner Mutter, der Großmutter und einem Onkel aus Rosenthal in Schlesien. Und er erinnert sich wohl nicht an seine ersten neun Kindheitsjahre. Es scheint in ihm alles wie ausgelöscht. Seine Herkunft im Dunkeln versunken, verschwunden. Christiane Hoffmann macht sie sich 75 Jahre später auf und geht denselben Weg, 550 Kilometer. «Zu Fuß?» «Zu Fuß.» «Allein?» «Allein.» Fragen, die ihr Unterwegs öfter begegnen werden. Sie tritt so etwas wie ein Erbe an, sie geht den Weg seiner Flucht nach Westen und nimmt Abschied von Rosenthal, den Abschied den ihre Vorfahren nie nehmen konnten. «Zu Fuß?» «Zu Fuß.» «Allein?» «Allein.» Auf diesem Weg kämpft sie sich durch Hagelstürme, sumpfige Wälder und bangt dass der Akku ihres Handys in der Dunkelheit durchhält, bis zum nächsten Ort. Auf diesem Weg sitzt sie in Kirchen, Küchen, guten Stuben und führt Gespräche – mit anderen Menschen und besonders mit sich selbst. Was sucht sie auf diesem Weg? Sie sucht nach der Geschichte ihrer Vorfahren, denn als Kind hörte sie die Geschichten der Erwachsenen über die verlorene Heimat. Sie schreibt: „Ich bin krank von dem Heimweh, das du nie hattest. Wenn ich nach Rosenthal fragte, hast du bereitwillig geantwortet, aber unbefriedigend. Es war nicht verboten zu fragen. Das Tabu war subtil, es wurde gesprochen, aber nicht über das, worum es wirklich ging. Die Erwachsenen gaben ihre Verletzungen und Alpträume weiter an die nächste Generation, an sie. Was ist wohl der Grund so ein Buch zu schreiben? Christiane Hoffmann zeigt sehr früh eine Antwort auf. sie schreibt: „…in meinen Albträumen bin ich auf der Flucht, zu Fuß oder mit dem Pferdewagen meist durch Schneelandschaften, kahle Bäume, grauer Himmel…“ Lange hatte sie nicht verstanden, warum sie so etwas träumte. Dabei lag es auf der Hand. Die Ähnlichkeit der Traumbilder mit den Erzählungen der Eltern und Großeltern. Was sie im Traum sah und quälte, waren die Bilder der Flucht ihrer Vorfahren. Was entdeckt sie bei den Begegnungen? Einmal die Erkenntnis:“Nichts ist vergangen, alles ist noch da und neu da, immer wieder.“ Christiane Hoffmann begegnet auf ihrem Weg vielen Fragen, z.B. wie gehen Familien, Gesellschaften, Deutsche, Polen und Tschechen mit der Vergangenheit um? „Deutsche Politiker gedenken. Sie fahren nach Ausschwitz, halten die schönsten Reden. Sie fahren auf die Westerplatte und nach Moskau. Aber das hilft alles nichts gegen den Geschichtskrieg, der jenseits der Oder tobt.“ „Dort sind sie verletzt und verbittert, dort geht es nicht um die Deutschen die an allem Schuld waren. Dort ist man damit beschäftigt, die Restschuld zu verteilen.“ „Es ist ein riesiger Streit, zwischen Polen und Russen, Russen und Ukrainer, Ukrainer und Polen, Israelis und Polen.“ Auf ihrem Weg, den sie in diesem Buch beschreibt, macht sie eine manchmal schwer erträgliche Gleichzeitigkeit erfahrbar und kommt an Fragen, wie z.B. „Was, wenn wir uns irren und nicht merken, dass nichts vorbei ist und sie gerade dabei sind den nächsten Krieg vorzubereiten, wenn unter der Asche immer noch Glut glimmt, in die sie jetzt hineinblasen, als müsse man sich nicht fürchten vor dem Feuer.“ Meine Begegnung mit dem Buch. Ich begann dieses Buch etwas zögerlich zu lesen, hatte es auf meinen Bücherstapel schon ein paar Tage liegen und war mir nicht ganz sicher, ob ich nicht doch erst eines der anderen Bücher lesen sollte. Ich begann zu lesen und zwei Tage später die erschreckende Nachricht: Krieg in der Ukraine. Und in Berlin im Hauptbahnhof begegne ich den ersten geflüchteten. Frauen und Kinder zu Hunderten. Dieses Präsent sein war für mich wie in einer anderen Zeit zu stecken und doch ist es jetzt und hier. Diese Präsents ist auch in der Familie der Autorin zu spüren. Christiane Hoffmann schreibt weiter. „Die Geschichte der Flucht meines Vaters aus Rosenthal war auch in der Kindheit meiner jüngsten Tochter immer präsent. Sie ging allen anderen Geschichten voraus, wie die Genesis. Sie blieb wie die biblische Schöpfungsgeschichte“. Unterwegs bemerkt sie: „23. Januar, dem zweiten Tag eurer Flucht, unterwegs auf dem Feldweg, die Erkenntnis, dieser Weg eignet sich nicht zum Denken und Nichts ist vergangen, alles ist noch da und neu da, immer wieder, auch die Erfahrung, die sie auf der Seite 142 beschreibt. „Viele Polen, mit denen ich spreche, mögen die EU nicht besonders. Polen ist der Union beigetreten, um Polen zu stärken und zu schützen, nicht wegen einer europäischen Idee. Die Polen meinen, dass Europa ihnen Dank schuldet, sagt Ursula, meine Lehrerin, historische Dankbarkeit. Europa müsste den Polen dankbar sein, denn Polen habe Europa gerettet, mindestens dreimal.“ Eine andere Erkenntnis die sie auf dem Weg hat ist das Erinnern. Nach anderthalb Wochen auf dem Weg schreibt sie: „Ich gehe euren Weg, um das zu erinnern, was du vergessen hast, langsam den Verstand verlierend, im Gespräch mit Wind und Bäumen, trotzig und wund vor Einsamkeit, gehe ich durch Nachkriegslandschaften, ohne Schutz gegen die Trostlosigkeit niederschlesischer Dörfer an grauen Januartagen, gehe diesen Weg, um euren Schmerz zu fühlen in meinen Beinen und im Nacken, in dem euch der Russe saß, um das zu erinnern, was du vergessen hast, gehe, von den Menschen freundlich und kopfschüttelnd aufgenommen, wie eine heilige Närrin meinem Pilgerweg, mein Exerzitium, ich tue Buße, ohne zu wissen wofür, für alles, was nicht erinnert wurde, um den Schmerz zu fühlen, über den in meiner Kindheit geschwiegen wurde, den Schmerz, den ihr nicht fühltet, den ich nur ahnte, den es nicht geben durfte und der doch allgegenwärtig war.“ Dies alles wird ihr auf diesem langen und beschwerlichen Weg deutlich und „Es ist immer möglich zu gehen, es ist unmöglich anzukommen. Wir werden nie wieder Wurzeln schlagen, bis in die dritte Generation. Wir werden nie wieder zu Hause sein. Wir werden uns allenfalls vorübergehend niederlassen hier oder da, wie eine Wanderin auf einer kalten Bank im Winter, immer bereit weiterzuziehen, loszulassen. Alles. Sogar das Leben.“ Die Wiederholung der Frage, die für mich schon eingangs auftauchte, was ist der Grund so ein Buch zu schreiben. Christiane Hoffmann gibt eine weitere Antwort: „Dieses Buch ist Dein Testament“ Ich will deine Geschichte bewahren, damit unsere Kinder sich erinnern können. Ihr hattet mit eurer Kinder Kindheit das Schlimmste hinter euch. Für uns und unsere Kinder könnte es andersherum sein, ein Leben in umgekehrter Reihenfolge, Und das Fazit von Christiane Hoffmann: „Meine Suche berührt die Menschen, denen ich begegne, das habe ich immer wieder erlebt.“ Bei der Suche nach den alten Geschichten und den alten Wunden, brachten ihre Fragen die Menschen, denen sie begegnete, in ihre Vergangenheit zurück. Es war, als seien sie dankbar, dass sich jemand interessiert, als sei Christiane Hoffmann diesen Weg nicht nur für sich selbst gegangen, sondern für ihren Vater, für ihre Familie und auch für viele andere. Mein Fazit. Dies ist ein sehr lesenswertes Buch mit der Reflexion über Krieg, Entwurzelung und Heimat. Es ist eine Aufarbeitungsform von Traumaerlebnissen der Vorgenerationen, die an uns weitergegeben wurden. Eine Lesung dieses Buches wird es mit Christiane Hoffmann im Rahmen der Atonale geben. Nähere Infos finden Sie im Newsletter und im Buchladen Christiansen.

C.H.Beck

Lesetipp von peder w.strux - 16.04.2022


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