Letzte Kunden-Lesetipps

Kamiab Falaki: Auf Abwegen

Der mit den Bildern des Autors versehene Erzählband Auf Abwegen umfasst 20 Geschichten, einige Gedichte und ist in zwei Teile gegliedert. Im ersten Teil Risse begegnen wir Migranten, vor allem aus dem Iran. Die Protagonisten im zweiten Teil Unerwartet sind Deutsche und in jeder Geschichte dieses Abschnitts gibt es eine vollkommen verblüffende Wendung. Die erste Erzählung beginnt mit einer behüteten Kindheit auf dem Lande im Iran, entwickelt sich dann aber rasant in verschiedene Settings und abwechslungsreiche Figurenensemble über die Landesgrenze hinweg. In intensiven und eindringlichen Begegnungen entwickeln sich hier die Geschichten von entwurzelten Menschen, die dies und jenseits der geografischen Grenzen außerhalb der sogenannten Normalität geraten sind. Die Protagonisten in beiden Teilen durchleben innere Prozesse wie Verlust und Sehnsucht, Schuld und Scham, Scheitern und Angst. Zeitlose universale Themen wie Macht und Machtverhältnisse, Freier Wille, Diktatur der Erinnerung, Verrat und Rache werden behandelt. Es geht auch um Hoffnungen, Sehnsüchten, Sinnlichkeit und ekstatische Momente. Das Buch ist ein Kaleidoskop der menschlichen Existenz gespeist aus den Jahrzehntelangen Erfahrungen und präzisen Beobachtungen des Autors nicht nur in seinem Ursprungsland Iran, sondern hier in Deutschland, in einer europäischen Gesellschaft. Jede Geschichte in diesem Erzählband funktioniert in sich eigenständig und ist abgeschlossen, dennoch gibt es immer wieder besondere Verbindungen zwischen den Geschichten wie zum Beispiel thematische Verwandtschaften. Auch zwischen den Figuren gibt es Besonderheiten: manche begegnen sich über die Grenze einer Einzelerzählung hinweg in einem anderen Ambiente, hier in einer Nebenrolle, dort als Hauptfigur. Einige Texte im ersten Teil sind autobiografisch gefärbt, in einigen Geschichten im zweiten Teil fließt die brandaktuelle politische und gesellschaftliche Realität in Deutschland und Aspekte der sozialen Misere ein. Die Handlungen sind sprachlich ausgesprochen bildhaft und in lebendigen Szenerien mit spannenden Dialogen erzählt, zwei Geschichten sind hauptsächlich in Dialogform angelegt, Psychoduelle, in denen die Worte Mimik und Gesten ersetzen. Es wird nicht moralisiert und dramatisiert, denn das Geschehen selbst ist dramatisch, ein starker Tobak, der einen nachhaltigen Eindruck hinterlässt. Der Autor erzählt in einer unpathetischen unsentimentalen Prosa mit Sympathie für und mit Respekt gegenüber seinen Figuren.

Erzählungen Arachne Verlag, 20,00 €

Lesetipp von Irma Kruspe-Giegler - 13.06.2022


Christiane Hoffmann: Alles was wir nicht erinnern Zu Fuß auf dem Fluchtweg meines Vaters

Alles was wir nicht erinnern Zu Fuß auf dem Fluchtweg meines Vaters Christiane Hoffmann in CH Beck Verlag erschienen Ich finde es ist ein sehr persönliches Buch über Flucht und Heimat, über die Schrecken des Krieges und über das, was verdrängt wird, um zu überleben. Ich glaube es ist unter anderem eine Aufarbeitung einer eigenen Familiengeschichte Worum geht es in diesem Buch? Christiane Hoffmanns Vater floh Anfang 1945 im Alter von 9 Jahren mit seiner Mutter, der Großmutter und einem Onkel aus Rosenthal in Schlesien. Und er erinnert sich wohl nicht an seine ersten neun Kindheitsjahre. Es scheint in ihm alles wie ausgelöscht. Seine Herkunft im Dunkeln versunken, verschwunden. Christiane Hoffmann macht sie sich 75 Jahre später auf und geht denselben Weg, 550 Kilometer. «Zu Fuß?» «Zu Fuß.» «Allein?» «Allein.» Fragen, die ihr Unterwegs öfter begegnen werden. Sie tritt so etwas wie ein Erbe an, sie geht den Weg seiner Flucht nach Westen und nimmt Abschied von Rosenthal, den Abschied den ihre Vorfahren nie nehmen konnten. «Zu Fuß?» «Zu Fuß.» «Allein?» «Allein.» Auf diesem Weg kämpft sie sich durch Hagelstürme, sumpfige Wälder und bangt dass der Akku ihres Handys in der Dunkelheit durchhält, bis zum nächsten Ort. Auf diesem Weg sitzt sie in Kirchen, Küchen, guten Stuben und führt Gespräche – mit anderen Menschen und besonders mit sich selbst. Was sucht sie auf diesem Weg? Sie sucht nach der Geschichte ihrer Vorfahren, denn als Kind hörte sie die Geschichten der Erwachsenen über die verlorene Heimat. Sie schreibt: „Ich bin krank von dem Heimweh, das du nie hattest. Wenn ich nach Rosenthal fragte, hast du bereitwillig geantwortet, aber unbefriedigend. Es war nicht verboten zu fragen. Das Tabu war subtil, es wurde gesprochen, aber nicht über das, worum es wirklich ging. Die Erwachsenen gaben ihre Verletzungen und Alpträume weiter an die nächste Generation, an sie. Was ist wohl der Grund so ein Buch zu schreiben? Christiane Hoffmann zeigt sehr früh eine Antwort auf. sie schreibt: „…in meinen Albträumen bin ich auf der Flucht, zu Fuß oder mit dem Pferdewagen meist durch Schneelandschaften, kahle Bäume, grauer Himmel…“ Lange hatte sie nicht verstanden, warum sie so etwas träumte. Dabei lag es auf der Hand. Die Ähnlichkeit der Traumbilder mit den Erzählungen der Eltern und Großeltern. Was sie im Traum sah und quälte, waren die Bilder der Flucht ihrer Vorfahren. Was entdeckt sie bei den Begegnungen? Einmal die Erkenntnis:“Nichts ist vergangen, alles ist noch da und neu da, immer wieder.“ Christiane Hoffmann begegnet auf ihrem Weg vielen Fragen, z.B. wie gehen Familien, Gesellschaften, Deutsche, Polen und Tschechen mit der Vergangenheit um? „Deutsche Politiker gedenken. Sie fahren nach Ausschwitz, halten die schönsten Reden. Sie fahren auf die Westerplatte und nach Moskau. Aber das hilft alles nichts gegen den Geschichtskrieg, der jenseits der Oder tobt.“ „Dort sind sie verletzt und verbittert, dort geht es nicht um die Deutschen die an allem Schuld waren. Dort ist man damit beschäftigt, die Restschuld zu verteilen.“ „Es ist ein riesiger Streit, zwischen Polen und Russen, Russen und Ukrainer, Ukrainer und Polen, Israelis und Polen.“ Auf ihrem Weg, den sie in diesem Buch beschreibt, macht sie eine manchmal schwer erträgliche Gleichzeitigkeit erfahrbar und kommt an Fragen, wie z.B. „Was, wenn wir uns irren und nicht merken, dass nichts vorbei ist und sie gerade dabei sind den nächsten Krieg vorzubereiten, wenn unter der Asche immer noch Glut glimmt, in die sie jetzt hineinblasen, als müsse man sich nicht fürchten vor dem Feuer.“ Meine Begegnung mit dem Buch. Ich begann dieses Buch etwas zögerlich zu lesen, hatte es auf meinen Bücherstapel schon ein paar Tage liegen und war mir nicht ganz sicher, ob ich nicht doch erst eines der anderen Bücher lesen sollte. Ich begann zu lesen und zwei Tage später die erschreckende Nachricht: Krieg in der Ukraine. Und in Berlin im Hauptbahnhof begegne ich den ersten geflüchteten. Frauen und Kinder zu Hunderten. Dieses Präsent sein war für mich wie in einer anderen Zeit zu stecken und doch ist es jetzt und hier. Diese Präsents ist auch in der Familie der Autorin zu spüren. Christiane Hoffmann schreibt weiter. „Die Geschichte der Flucht meines Vaters aus Rosenthal war auch in der Kindheit meiner jüngsten Tochter immer präsent. Sie ging allen anderen Geschichten voraus, wie die Genesis. Sie blieb wie die biblische Schöpfungsgeschichte“. Unterwegs bemerkt sie: „23. Januar, dem zweiten Tag eurer Flucht, unterwegs auf dem Feldweg, die Erkenntnis, dieser Weg eignet sich nicht zum Denken und Nichts ist vergangen, alles ist noch da und neu da, immer wieder, auch die Erfahrung, die sie auf der Seite 142 beschreibt. „Viele Polen, mit denen ich spreche, mögen die EU nicht besonders. Polen ist der Union beigetreten, um Polen zu stärken und zu schützen, nicht wegen einer europäischen Idee. Die Polen meinen, dass Europa ihnen Dank schuldet, sagt Ursula, meine Lehrerin, historische Dankbarkeit. Europa müsste den Polen dankbar sein, denn Polen habe Europa gerettet, mindestens dreimal.“ Eine andere Erkenntnis die sie auf dem Weg hat ist das Erinnern. Nach anderthalb Wochen auf dem Weg schreibt sie: „Ich gehe euren Weg, um das zu erinnern, was du vergessen hast, langsam den Verstand verlierend, im Gespräch mit Wind und Bäumen, trotzig und wund vor Einsamkeit, gehe ich durch Nachkriegslandschaften, ohne Schutz gegen die Trostlosigkeit niederschlesischer Dörfer an grauen Januartagen, gehe diesen Weg, um euren Schmerz zu fühlen in meinen Beinen und im Nacken, in dem euch der Russe saß, um das zu erinnern, was du vergessen hast, gehe, von den Menschen freundlich und kopfschüttelnd aufgenommen, wie eine heilige Närrin meinem Pilgerweg, mein Exerzitium, ich tue Buße, ohne zu wissen wofür, für alles, was nicht erinnert wurde, um den Schmerz zu fühlen, über den in meiner Kindheit geschwiegen wurde, den Schmerz, den ihr nicht fühltet, den ich nur ahnte, den es nicht geben durfte und der doch allgegenwärtig war.“ Dies alles wird ihr auf diesem langen und beschwerlichen Weg deutlich und „Es ist immer möglich zu gehen, es ist unmöglich anzukommen. Wir werden nie wieder Wurzeln schlagen, bis in die dritte Generation. Wir werden nie wieder zu Hause sein. Wir werden uns allenfalls vorübergehend niederlassen hier oder da, wie eine Wanderin auf einer kalten Bank im Winter, immer bereit weiterzuziehen, loszulassen. Alles. Sogar das Leben.“ Die Wiederholung der Frage, die für mich schon eingangs auftauchte, was ist der Grund so ein Buch zu schreiben. Christiane Hoffmann gibt eine weitere Antwort: „Dieses Buch ist Dein Testament“ Ich will deine Geschichte bewahren, damit unsere Kinder sich erinnern können. Ihr hattet mit eurer Kinder Kindheit das Schlimmste hinter euch. Für uns und unsere Kinder könnte es andersherum sein, ein Leben in umgekehrter Reihenfolge, Und das Fazit von Christiane Hoffmann: „Meine Suche berührt die Menschen, denen ich begegne, das habe ich immer wieder erlebt.“ Bei der Suche nach den alten Geschichten und den alten Wunden, brachten ihre Fragen die Menschen, denen sie begegnete, in ihre Vergangenheit zurück. Es war, als seien sie dankbar, dass sich jemand interessiert, als sei Christiane Hoffmann diesen Weg nicht nur für sich selbst gegangen, sondern für ihren Vater, für ihre Familie und auch für viele andere. Mein Fazit. Dies ist ein sehr lesenswertes Buch mit der Reflexion über Krieg, Entwurzelung und Heimat. Es ist eine Aufarbeitungsform von Traumaerlebnissen der Vorgenerationen, die an uns weitergegeben wurden. Eine Lesung dieses Buches wird es mit Christiane Hoffmann im Rahmen der Atonale geben. Nähere Infos finden Sie im Newsletter und im Buchladen Christiansen.

C.H.Beck

Lesetipp von peder w.strux - 16.04.2022


Sylvia Wage: Grund

Sylvia Wage hat mit ihrem Debütroman "Grund" den Blogbuster-Preis 2020 gewonnen. Das jetzt bei Eichborn erschienene Buch erzählt auf raffinierte Weise die Geschichte eines elfjährigen Kindes, das im Keller seines Elternhauses eigenhändig einen Brunnen gräbt und nach Vollendung der Bauarbeiten den herrschsüchtigen Vater hineinstößt. Dort lebt der Mann dann noch ungefähr zwanzig Jahre lang – zuverlässig versorgt von seinem Kind und unbemerkt vom Rest der Familie sowie der gesamten Nachbarschaft. Als er nach ca. zwanzig Jahren im Kellerloch stirbt, ruft das Kind (mittlerweile natürlich erwachsen) seine Schwestern an, um sich über die Entsorgung der Leiche zu beraten … „Grund“ ist eine irrwitzige Geschichte um ein streng gehütetes Familiengeheimnis. Raffiniert komponiert mit Rückblenden ins Familienleben und klugen Reflexionen auf den Erzählvorgang selbst, mindestens doppelbödig, teils drastisch, oft urkomisch - und unfassbar gut geschrieben. Garantiert keine Zeile langweilig!

Roman Eichborn

Lesetipp von Jutta Nickel - 05.10.2021


Kunden-Lesetipps

Bernd B. Badura: Werke eines großen Meisters

"Werke eines großen Meisters" lautet der Titel des Buchs, das Schapo Klack zu Beginn der Geschichte in den Händen hält, die mich in den letzen Monaten so oft verzaubert hat. Doch leider hat der Bibliothekar der Traumwelt nicht viel Zeit, in das Buch hinein zu schauen, denn gerade, als er es entdeckt, tritt Morpheus, der Herr der Traumwelt an ihn heran, mit einem Auftrag, der auf keinen Fall warten kann. Er muss in die Welt der Realität reisen, um die Träume der Menschen zu retten. Doch was Schapo Klack dort erwartet, hat er bis dahin nur in seinen geliebten Büchern erlebt.

Dave Eggers: Der Circle

Mae Holland ist froh, glücklich und dankbar nach dem Studium ein Stelle in einem großen Internetkonzern zu erhalten. Gleich am ersten Tag fühlt sie sich angenommen und akzeptiert. Sie lernt schnell, lernt vor allem darauf zu achten, genug Follower zu bekommen. Und doch überkommt sie, wenn Schwierigkeiten auftreten, immer wieder die Angst, den Ansprüchen der Kollegen nicht entsprechen zu können und vor allem, ihre Förderer zu enttäuschen.
Immer mehr wird an dem sozialen Netzwerkgewebt, nur im Interesse der Firmenmitglieder und der Follower, die es nicht zu enttäuschen gilt. Macht die totale Kontrolle glücklich? Gibt es ein Recht auf eigene Fehler und eigene Dummheiten? Das Internet – ein Segen oder ein Fluch?
Gewinnen wir unser Leben erst wieder zurück, wenn wir auf ein Leben im Netz verzichten?

Raquel J. Palacio: Wunder

Wie viel Glück und Freunde braucht man, um seinen Platz im Leben zu finden?
August Pullman ist 10 Jahre alt, ein wundervolles Kind, klug, witzig, intelligent. Doch sein Gesicht ist entstellt. Es kann nicht als Gegenüber erkannt werden, es ist nicht wie man selbst zu sein denkt, es hält einem einen Spiegel vor Augen. Erkennt man hier die eigene Deformation und lehnt den anderen deswegen ab?
Nun soll August endlich eingeschult werden, in die 5. Klasse. Das Unglück und dann doch das Glück nimmt seinen Lauf. Geschildert wird diese mitreissende Geschichte in verschiedenen Perspektiven (August selbst, Mutter, Vater, Schwester, Freunde.
„Was schön ist, ist gut, und wer gut ist, wird bald schön sein.“ (Sappho). Ein sehr gutes und guttuendes Buch.

Elisabeth Zöller: Anton oder die Zeit des unwerten Lebens

Das in Deutschland zur Zeit des Regimes der Nationalsozialisten kurz vor und im 2. Weltkrieges spielende Buch “Anton oder die Zeit des unwerten Lebens” von Elisabeth Zöller, das im Jahr 2004 erschien, handelt von dem 1932 geborenen Jungen Anton, der durch einen Unfall zum Behinderten wurde. Durch den Unfall stottert Anton, hat eine Lähmung in der rechten Hand und eine Störung des Sprachzentrums die ihn geistig behindert.
Das Buch ist nach einer wahren Geschichte geschrieben, Elisabeth ist die Nichte von dem im Buch Anton genannten Jungen.
Das Buch erzählt wie eine Familie in der Nazizeit mit einem Sohn, der laut Hitler als minderwertig angesehen wurde, zurecht kommt.
Die Nazis bauten sogar eine Organisation auf die Juden und Behinderte tötete. Als Anton in die Schule kam wurde er von seinen Mitschülern ausgelacht getreten und fertig gemacht, aber seine Eltern schickten ihn immer wieder in die Schule da nur “normale” Kinder in die Schule gehen, so versuchten sie sein Leben zu schützen. Als Anton eines Tages von den Nazis abgeholt werden soll, versteckte die Mutter von Anton, Anton bei ihrer Freundin auf dem Land was ihr sehr schwer fällt. Die Freundin besorgte Anton noch einen Totenschein, so dass Anton vor weiteren Verfolgungen geschützt ist.
Das Buch beschreibt auf eine schöne Art und Weise wie toll es für die Familie war Anton zu haben trotz aller Anfeindung.

Am tollsten fand ich die Schlussstelle mit der Geschichte von Anton, die er selber gemalt und geschrieben hat, außerdem gefällt mir auch besonders der Epilog.
Ich gebe dem Buch 4,5 von 5 Sternen.

Jenny Erpenbeck: Aller Tage Abend

Was ist Schicksal, was ist Zufall, was bestimmt unser Leben? Leben ist immer auch Vergangenheit und Zukunft und selten Gegenwart? Jenny Erpenbeck versteht es meisterhaft, die verschlungenen Lebenspfade zu verweben. Ist es die Tochter, von der gerade die Rede ist, oder schon die Großmutter? Nur die Zeitabläufe, gebrochen durch Rückblicke, scheinen konsequent erzählt. Die Verfolgung unter dem Nationalsozialismus genauso wie die Verfolgung unter Stalin. Für eine gute Sache zu kämpfen und doch auf der falschen Seite zu stehen. Eine Sprache, die wirklich auf der Zunge zergeht und im Kopf Freudensprünge auslöst. Sehr lesenswert.

Cord Buch: Mord im Viertel

„Mord im Viertel“ ist eine flott erzählte Geschichte um links-alternativen Widerstand in Metropolen, insbesondere um den Widerstand gegen Luxussanierung und Vertreibung. Die darin verwickelten Personen haben deutliche Konturen, ohne dass viele Details ausgebreitet werden. Das Lebensgefühl und der Lebensstil verschiedener Generationen politisch engagierter Großstadtmenschen pulsieren zwischen den rasch an Fahrt aufnehmenden Ereignissen. Spannung entsteht außerdem durch Selbstgespräche einer lange unbekannt bleibenden Person, die die Kapitel einleiten. Diese Person reflektiert ihre eigene Verstrickung in die Vorkommnisse und deren mörderischen Folgen.
Cord Buch entwirft eine Protagonistin außerhalb der monogamen Norm: Nele, eine politisch aktive Journalistin Mitte 50, lebt in einem Geflecht aus mehreren sexuellen Beziehungen. Sie genießt deren Fülle und bemüht sich um Offenheit und Verbindlichkeit. Sie geht ihren Weg und macht kein großes Aufhebens davon. Auf moralische Einwände geht sie nicht ein, auch nicht auf die ihres Sohnes. Als es im Zuge der Auseinandersetzungen um die Sanierung ihres Stadtviertels zu Toten kommt, gerät sie zwischen die Fronten.
„Mord im Viertel“ ist ein Krimi, in dem die ermittelnden Beamten eine eher untergeordnete Rolle spielen. Sie fahnden nach gängigem Muster, entlang aller politischen und sexuellen Vorurteile. Damit sind sie auf dem falschen Dampfer und liegen dennoch nicht daneben.

Sefi Atta: Nur ein Teil von dir

Klappentext

Aus dem Englischen von Eva Plorin. Die Nigerianerin Deola ist 39 und hat viel erreicht. Sie arbeitet in London als Wirtschaftsprüferin internationaler Hilfsorganisationen. Sensibel und aufmerksam wie ein Seismograph nimmt sie täglich die Ignoranz ihrer Mitmenschen gegenüber der afrikanischen Wirklichkeit in beiläufigen Worten und Gesten wie haarfeine Stiche wahr. Als Deola beruflich nach Nigeria fliegt, sieht sie ihre Familie und Freunde wieder, und die Reise wird zum Prüfstein für ihre Gefühle. Sie muss sich den Erwartungen der Familie entziehen, deren Vorstellungen von einem erfüllten Frauenleben immer noch untrennbar mit Ehe und Mutterschaft verbunden sind. Auch wird sie wieder mit der Wirklichkeit des Lebens im Moloch Lagos konfrontiert, und so steckt sie fest zwischen den beiden Anteilen ihres Lebens. Deolas Reise bringt alles in Bewegung, und am Ende fällt sie eine Entscheidung, die ihr Leben in neue Bahnen lenkt.

Dimitri Verhulst: Der Bibliothekar, der lieber dement war als zu Hause bei seiner Frau

Ein über 70-jähriger Bibliothekar hat das Leben mit seiner nervtötenden Frau satt und zu seinen Kindern hat er auch keinen richtigen Kontakt. Also beschließt er irgendwann, den Demenzkranken zu spielen und spekuliert mit einer Unterbringung im Heim. Da spielt er seine Rolle überzeugend weiter... "Obwohl die Tat selbst vollkommener Absicht entspringt, geht es mir sehr gegen den Strich, dass ich jede Nacht wieder ins Bett scheiße. Mich zu dieser entwürdigenden Aktion zu erniedrigen ist wahrlich die unangenehmste Konsequenz des ziemlich verrückten Wegs, den ich auf meine alten Tage gewählt habe. Doch ich würde das Pflegepersonal misstrauisch machen, wenn ich mein Nachtzeug unbeschmutzt ließe. Um nicht aus der Rolle des senilen Altenzu fallen, habe ich keine andere Wahl, als mir in regelmäßigen Abständen in die Windeln zu machen. Denn das ist es in der Tat: eine Rolle. So dement, wie ich die Außenwelt glauben zu machen versuche, bin ich überhaupt nicht!"

Komisch ist das Buch. Und traurig. Und wunderschön gestaltet!

Jürgen Bauer: Das Fenster zur Welt

Der Roman erzählt die Geschichte einer alten Frau, deren hundertjährige Mutter gerade gestorben ist, und eines jungen Mannes, der nach einer Trennung nicht mehr weiß, was er vom Leben will. In einer skurril-komischen Szene beim Speeddating treffen die beiden aufeinander und bemerken, dass sie sich von früher kennen.
Gemeinsam starten sie eine Reise in die Vergangenheit, die beide vor die Frage stellt, was sie vom Leben noch erwarten.

Das Buch beginnt sehr melancholisch, von einer leisen Trauer über Verlust durchzogen. Doch spätestens mit dem Aufeinandertreffen der beiden Hauptfiguren kommt auch eine Komik ins Spiel, die ich sehr mochte, weil sie nie zu aufdringlich war. Der Autor verrät außerdem nur manche Details über seine Figuren sofort, vieles entdeckt man erst im Laufe des Romans, so zieht sich eine ganz eigene Spannung durch den Text und man entdeckt immer wieder neue Aspekte, kann nie einschätzen, wie die Handlung sich weiterentwickeln wird, welchen Hintergrund, welche Beweggründe die Figuren haben.

Das Buch hat nur knapp 180 Seiten, dennoch lese ich auch kurze Bücher selten in einem Rutsch durch. Hier konnte ich es nicht weglegen. Große Lektüreempfehlung!

John Boybe: Das späte Geständnis des Tristan Sadler

In diesem Buch geht es um Tristan sadler, der nach dem 1. Weltkrieg zu der Schwester eines gefallenen Kameraden fährt, um ihr die Wahrheit über seinen Tod zu erzählen..

Das Buch ist von der ersten bis zu letzten Seite spannend und hat ein dramatisches, trauriges und gut durchdachtes Finale. Vor allem hat der Schluss mich begeistert, weil er unvorhersehbar ist und man wirklich nachhaltig überrascht und fasziniert ist.

Außerdem ist es sehr schön, in der Ich- Form, geschrieben und man kann sich in jeder Situation in Tristan hineinversetzen!

Ein toller Roman

Joachim Meyerhoff: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war


Ein Junge wächst auf als Jüngster von drei Brüdern auf dem Gelände der kinder- und jugendpsychiatrischen Anstalt in Schleswig. Sein Vater ist Direktor dort und die Familie lebt mittendrin, im ganz normalen Wahnsinn. Abends schlummert Josse friedlich ein begleitet vom Heulen und Wimmern der jungen Patienten.
Tagsüber reitet er auf den mächtigen Schultern eines glockenschwingenden Riesen über das Anstaltsgelände und ist glücklich dabei.
Josses Vater, der „Bildungsbuddha“ nähert sich den Dingen am liebsten theoretisch von seinem Ohrensessel aus. Hier liest er sich mit großer Begeisterung ein, z.B. in die hohe Kunst des Segelns, in nautische Abenteuer auf den sieben Weltmeeren. Er kauft euphorisch ein Segelboot, noch bevor er den Segelschein in der Tasche hat und lässt seinen Traum schließlich kentern, als er auf der Schlei in Seenot gerät – bei Flaute. Komisch, oft skurril sind die Szenen, in die Joachim Meyerhoff uns Leser hineinzieht. Die Menschen aber sind es nicht. Sie kommen mir nahe, sind lebendig und liebenswert auch oder gerade im Scheitern.

Bei allem Sinn fürs Komische zieht sich als roter Faden das Thema Verlust und Tod durch das Buch. Das Leben dieser besonderen Familie wird nicht zuletzt durch den tödlichen Unfall des mittleren Sohnes geprägt und es endet... aber lesen Sie selbst.

„Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war“ habe ich mit großer Freude genossen, ich sprang mitten rein in diese außergewöhnliche Welt, die mir auf seltsame Weise immer vertrauter wurde. Ein Buch zum selber lesen und verschenken.

Joachim Meyerhoff: Alle Toten Fliegen Hoch - Amerika

Ein tolles Buch, witzig, intelligent, facettenreich und spannend. Die Pubertät. Die Neugier. Das Wissen, darum, dass irgendetwas Besonderes noch kommen muss. Und überraschenderweise auch kommt. Die ersehnte erste Liebe, betrogen vom Traum, Basketballspieler in den USA werden zu wollen. Die ersehnte Karriere als Spieler, möglich nur, weil ein Trainer unbedingt einen Deutschen im Team haben will. Und dann die Bilder. Assoziativ, frei und ausgemalt immer wieder mit neuen Geschichten. Und dann das Tempo und der Rhythmus beim Erzählen: Ein Lesevergnügen der besonderen Klasse.

Geert Mak: Amerika! Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten

Der niederländische Autor Geert Mak, der 2008 mit dem Leipziger Buchpreis zur europäischen Verständigung ausgezeichnet wurde, hat ein neues Buch geschrieben, das von der ersten Seite an fesselt. Der Autor hat sich im Jahre 2010 auf die Spuren des großen amerikanischen Schriftstellers John Steinbeck begeben, der 50 Jahre zuvor mit seinem Pudel Charley in einem umgebauten Transporter sein Land erkundet hat. Der Route des berühmten Kollegen folgend, vergleicht Mak die damaligen Impressionen Steinbecks mit den eigenen Eindrücken. Und die sind zutiefst widersprüchlich, was angesichts der schieren Größe des Landes, seiner gegensätzlichen Landschaften, der vielen verschiedenen Ethnien, Religionen und Kulturen und nicht zuletzt wegen gegenläufiger wirtschaftlicher Entwicklungen in den Bundesstaaten nicht verwunderlich ist. Mak hat zahlreiche amerikanische Freunde, bereist das Land seit Jahrzehnten und mag es vor allem. Das erklärt, warum der Schriftsteller nicht als kühler Beobachter daherkommt, sondern mit Leidenschaft und Empathie erzählt. Das gilt in erster Linie für viele von ihm wahrgenommene Fehlentwicklungen. Mak beschreibt etwa den Niedergang der ländlichen Räume, der Industrieproduktion und der öffentlichen Infrastruktur. Auch entgeht ihm nicht das zunehmende Auseinanderdriften der amerikanischen Gesellschaft in ökonomischer, politischer, religiöser und ethnischer Hinsicht. Dabei schreibt er ohne den erhobenen Zeigefinger des europäischen Kulturbürgers. Der Autor bietet einen leichthändig geschriebenen Abriss der amerikanischen Geschichte, scharfsinnige Analysen zum aktuellen Zustand der USA und vor allen Dingen farbige, atmosphärisch dichte Beschreibungen von Land und Leuten. Mitunter wähnt sich der Leser selbst in einem kalifornischen Mammutwald oder in dem Diner einer Kleinstadt des Mittelwestens. Wer dieses unglaublich spannende, kenntnisreiche und glänzend formulierte Buch gelesen hat,der wird dieses faszinierende, aber auch verstörende Land weitaus besser verstehen.

Hernan Rivera Letelier: Die Filmerzählerin

Ein wunderbares, schmales und konzentriertes Buch voller Poesie, die – Walter Benjamin läßt grüßen – besonders in der Armut und im Leid zu blühen scheint.
Nicht alle können sich einen Kinofilm leisten. Also geht einer ins Kino und erzählt den anderen, was er gesehen hat. Ein zehnjähriges Mädchen, Maria Margarita, kann Filme besonders gut nacherzählen und spielerisch darstellen. Sie verzaubert die ganze Minensiedlung. Jung von der Mutter verlassen, die mehr vom Leben wissen wollte, bleibt sie in der Siedlung. Schließlich gibt es keine Arbeit mehr, aber Touristen, denen sie die Geschichte von dem Mädchen, das Filme anschaulich machen konnte, erzählt.

Cornelia Manikowsky: Hund!

Welches Kind hat nicht den Wunsch nach einem Hund!? So ist es auch bei Moritz, der Hauptfigur dieser verrückten, nuancierten und zugleich sehr lustigen Geschichte, die von Hunden, gefräßigen Gürteltieren und obercoolen großen Brüdern handelt und dabei zugleich von Freundschaft und der Kraft der Fantasie auf überaus lebendige Weise erzählt.

Weil Moritz’ Mutter eine Allergie hat, muss er seinen Traum von einem Hund aufgeben, während sein bester Freund Viktor eines Tages mit einem süßen Welpen auftaucht. Klar, dass Moritz eifersüchtig ist und Viktor jetzt aus dem Weg geht. Eines Nachts aber rumpelt es ihn Moritz Schrank. Und auch wenn er es zunächst nicht glauben mag, dieses komische Etwas, das sich da herauskugelt, entpuppt sich als ein Tier, sein Tier, aber kein Hund, nein, es ist vielmehr ein überaus verfressenes, freches und fröhlich vor sich hin rülpsendes Gürteltier, das sich bei Moritz einquartiert und für das er fortan sorgt – was nicht immer ganz einfach ist. Moritz liebt das verschrobene Gürti, füttert es und liest ihm seine Lieblingsbücher vor. Inspiriert von den verrückten Ideen seines heimlichen Mitbewohners bietet Moritz nicht nur seinen überheblichen Bruder fortan Paroli und lernt ihn dadurch plötzlich von einer ganz anderen Seite kennen, sondern er geht auch auf Viktor wieder zu und weiht ihn in sein Geheimnis ein. Und es ist schließlich auch sein bester Freund, der ihm dabei hilft, sich schweren Herzens von dem inzwischen riesigen und stinkenden Gürti wieder zu verabschieden. Wohin es verschwindet, wird hier noch nicht verraten…

Absolut empfehlenswertes Kinderbuch zum Selbst- oder Vorlesen: zum einen wegen der lebendigen Sprache von Cornelia Manikowsky, des differenzierten Umgangs mit existenziellen Themen in Verbindung mit Humor und Sprachwitz, zum anderen auch wegen der schönen Illustrationen von Miriam Zedelius und der liebevollen, ansprechenden Gestaltung des Buches insgesamt durch die „edition buntehunde“ .

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